Es ist 14 Uhr. In dem langen Gebäude brennt Licht. Der Bergbau steht still, doch die Zeiger an der Uhr des Verwaltungsgebäudes drehen weiter ihre Runden. Die Wolken werfen einen Schatten auf die Backsteinwand. Der Hof ist leer. Jürgen Geppert steht vor dem Tor der Zeche Auguste Victoria in Marl. Schacht 3/7, sein letzter Arbeitsplatz. Hinter dem Verwaltungsgebäude ragt die Spitze eines großen Turms hervor. Ein Förderturm – 68 Meter hoch. Er kennt ihn wie seine Westentasche. Sein Arbeitsplatz: Die Maschinen in der obersten Etage. Ein Fahrstuhl führt nach oben. Die Treppe hat Jürgen Geppert nur einmal benutzt. „Oben angekommen, hätten sie für mich einen Sanitäter rufen können“, lacht der 57-jährige. Er schenkt dem Gebäude einen letzten Blick, dann steigt er in seinen Wagen.

Jürgen Geppert beginnt 1976 eine Ausbildung auf der Zeche Fürst Leopold in Dorsten. „Ich habe während der Ausbildung zum Energieanlagenelektroniker drei Jahre unter Tage gearbeitet. Kurz nachdem ich ausgelernt hatte, wurde ich von der Bundeswehr eingezogen. 15 Monate. Danach wollte ich nicht mehr da unten arbeiten“, erzählt der 57-Jährige. Er beginnt eine neue Ausbildung über Tage, als Fördermaschinist.

„Ich habe in meinem Leben über 30 Maschinen gefahren. An den verschiedensten Orten“, sagt er stolz. Jürgen Geppert fährt über eine Brücke, folgt einer abzweigenden Straße Richtung Haltern. Er hält vor einem geschlossenen Tor und steigt aus seinem Wagen. In seinen Augen spiegeln sich die Überreste von Schacht 8. Auch hier hat Jürgen Geppert Maschinen bedient. Den Haupteingang schmückt ein verblasstes „Betreten-Verboten-Schild“. Rost blüht an vielen Stellen der stillgelegten Anlage auf. Menschen, die mit ihren Hunden an der Lippe spazieren, kreuzen die alte Zeche. Ein Naturschutzgebiet, umrandet von einem Stück Bergbaugeschichte. Der ehemalige Fördermaschinist öffnet seine Autotür.

„Ich war immer einer der Letzten, wenn eine Zeche geschlossen hat. Einige Kollegen nannten mich auch ‚den Schließer‘ “, lacht Jürgen Geppert künstlich. Ihm ist anzusehen, dass er eigentlich nicht lachen will. „Das war immer blöde. In Dorsten-Wulfen habe ich fast 25 Jahre gearbeitet. Eine neue Zeche heißt alles neu lernen. Das fängt mit Telefonnummern an. Du weißt anfangs gar nicht, wen du anrufen sollst, wenn du ein Problem hast“, erzählt er. „Hinterher kannte ich die ganzen Steiger nicht mehr. In Wulfen habe ich jeden gekannt. Teilweise von klein auf. Man hat jeden geduzt. Eine neue Zeche bedeutet neue Leute und gleichzeitig Befremdlichkeit“. Ab 1988 arbeitet er am Standort Wulfen. 10 Jahre später ist die Zeche stillgelegt. Kurz danach wird auch die Förderung in Dorsten eingestellt. Er wechselt nach Marl-Polsum.

Jürgen Geppert holt tief Luft und schließt seine Autotür. „Es ist schon traurig, den Verfall zu sehen. Es sind keine zehn Jahre vergangen. Die Natur holt sich alles zurück. Unglaublich wie schnell alles wuchert“, flüstert der ehemalige Fördermaschinist leise. Seine Stimme verstummt. Er blickt auf die vielen Graffiti an den Wänden. Einige Fenster sind mit Holzbrettern verriegelt, die restlichen eingeschlagen. Gardinen wehen zwischen den Scherben. Alte Einrichtungsgegenstände liegen auf dem Boden. Es riecht vermodert. Eine stillgelegte Zeche — ein Bild der Verwüstung. Sieben Jahre verbringt Jürgen Geppert auf der Zeche in Marl-Polsum. Sie schließt 2009. Alle Arbeiter werden nach Hamm oder zur Zeche Auguste Victoria geschickt. Jürgen Geppert bleibt in Marl.

Bis der Fördermaschinist Ende 2016 in die Anpassung geschickt wird, pendelt er zwischen den Schächten der Zeche Auguste Victoria. „Immer dahin, wo gerade Not am Mann war. Auf 3/7 habe ich meine letzte Schicht gehabt. Es war schwer, das Tor am letzten Tag zu verlassen“, erinnert er sich. Das große Gelände von Auguste Victoria soll sich in einigen Jahren in ein Industriegebiet verwandeln. „Marl hat keine großflächigen Gewerbegebiete mehr. Hoffentlich bleibt der Förderturm als Denkmal erhalten“, wünscht sich der 57-jährige. Ein Denkmal für viele Jahre der Bergbaugeschichte in Marl. Und als Erinnerung an einen Teil der Lebensgeschichte von Jürgen Geppert.

Sein letzter Blick fällt auf die Zeche. Es ist 18 Uhr. In seinem Wagen brennt Licht. Jürgen Geppert schaltet es aus und fährt nach Hause.