• In einem Workshop verpflichten sich 6 Fremde für 4 Stunden der Wahrheit
  • Sie sagen sich direkt was sie denken und fühlen
  • Mich kostet die Wahrheit mehr Überwindung als ich dachte

Es ist einfach nur die Wahrheit, denke ich noch, bevor ich klingele und mich damit verpflichte, für die nächsten Stunden komplett ehrlich zu sein. Etwas später sitze ich auf einem Sofa, ziehe meine Beine an, verschränke die Arme. Ich bin nervös. Mir fehlen die Worte.

Um mich herum sitzen fünf Menschen, die ich erst seit ein paar Minuten kenne. Ich soll mich vorstellen, etwas Unangenehmes über mich verraten. Meine Vorredner haben schon vorgelegt: Telefonsex, Einsamkeit, noch nie in einer richtigen Beziehung gewesen. Allen voran Rene*: Er leitet diesen „Radical Honesty“-Workshop. Breitbeinig sitzt er auf seinem Stuhl und schaut den Umhersitzenden durchdringend in die Augen. Er erzählt von seinen Ängsten, seinem Alkoholproblem, seiner Ziellosigkeit. Und davon, wie sich sein Leben verändert hat, seitdem er seine Gedanken und Gefühle ungefiltert mit seinen Mitmenschen teilt. Denn genau darum geht es bei „Radical Honesty“: Immer die Wahrheit sagen, auch unaufgefordert. Rene gibt das ein neues Gefühl von Freiheit.

Ich bin dran: Ich stammle etwas von meinem Unwohlsein in großen Gruppen, und dass ich seit meiner Kindheit nicht wirklich akzeptieren kann, dass ich in manchen Situationen schüchtern bin. Rene fragt, wie ich mich jetzt fühle. Vielleicht ein bisschen leichter. Aber ich glaube, eher weil ich nicht noch mehr sagen muss, nicht weil ich es losgeworden bin.

Bei unserer nächsten Übung blicke ich in die Augen von Julian. Er steht auf der anderen Seite des Zimmers. Wir haben noch kein Wort miteinander gewechselt. Stück für Stück gehen wir aufeinander zu und versuchen, eine angenehme Distanz zwischen uns zu finden. Ein Schritt vor und zögernd noch einen. Halt, Julian macht einen zurück. Irritiert weiche ich auch zurück. Ich fühle mich vor den Kopf gestoßen. Rene sagt, wir sollen nun beschreiben, was wir sehen, fühlen und denken. Julian soll anfangen, ich will mich nicht wieder blamieren. Meine Augen seien schön, mein Gesicht auch. Schwitzige Hände und eine Art Anziehung waren der Grund für seinen Rückzug.

Damit habe ich nicht gerechnet. Ich bin überfordert, aber muss schnell etwas sagen. Julian trägt ein blaues T-Shirt, also sage ich, dass ich das schön finde. Dann erinnere ich mich an den Anfang unseres Treffens: Jeder Einzelne von uns hat sich dazu verpflichtet, bedingungslos ehrlich zu sein. Also gebe ich zu, dass mir zuerst sein Gesicht aufgefallen ist. Es hat etwas spitzbübisches. Nach der Übung stehen wir entspannt nebeneinander, näher als noch vor ein paar Minuten. Es ist befreiend auch über etwas reden zu können.

Während der nächsten Stunden geben wir noch mehr von uns preis. Rene fordert uns auf, direkt anzusprechen, was uns am Anderen auffällt oder stört. „Wie attraktiv findest du mich auf einer Skala von eins bis zehn?“, fragt mich Rene. Ein kurzer Blick an die Wand, dann antworte ich: „Sieben“. Eine andere Teilnehmerin hatte Rene zuvor schon als „geile Milf“ bezeichnet.

Für manche bedeute Ehrlichkeit auch, beleidigend zu werden. In dieser Runde passiert das nicht. Judith regt auf, dass Michael anscheinend immer das letzte Wort haben muss. Sie fügt hinzu: „Ich fühle mich unwohl dabei, dir das zu sagen und habe Bedenken, dich damit zu verletzen.“ Rene beschwert sich über Franks Art zu sprechen. Er wolle nicht homophob sein, aber Franks Ton empfinde er irgendwie als schwul. Michael und Frank äußern sich zu den Vorwürfen. Sowohl Judith als auch Rene zeigen Verständnis.

Bis alles gesagt ist vergehen vier Stunden, eigentlich war der Workshop nur für drei Stunden geplant. Rene ist nicht ganz zufrieden, er hätte gerne mehr gemacht. Zum Abschluss stellen sich alle in einen Kreis, nehmen sich an den Händen und sprechen wie in einem Mantra Rene nach. „Ich bin ich und du bist du“, fängt er an.

Nachdem ich mich von allen mit einer Umarmung verabschiedet habe fühle ich mich komisch, ausgelaugt, irgendwie nackt. Nie hätte ich gedacht, dass es mir so schwerfallen könnte, in dieser Runde das zu sagen, was ich denke. Und nie hätte ich gedacht, dass ich mich unwohl dabei fühlen könnte, wenn andere geradeheraus ihre Gefühle preisgeben. Zu Beginn des Workshops mussten wir einwilligen, dass wir auf eigene Gefahr teilnehmen. Jetzt weiß ich, warum.

*bis auf Rene wurden alle Namen von der Autorin geändert