• Vor 9 Jahren ist Anna an Anorexie erkrankt
  • Seit 8 Jahren erlebe ich ihren Krankheitsverlauf als ihre beste Freundin mit
  • Zurzeit wird sie in der „Schön Klinik“ in Bad Arolsen therapiert und ich werde sie heute einen Tag begleiten

Bereits seit mehreren Jahren treffen Anna und ich uns jeden Dienstagnachmittag in unserem Lieblingscafé. Diese Plauderstunde ist für uns zu einer Art Ritual geworden und uns beiden sehr wichtig, da wir uns mit unseren Gesprächen gegenseitigen Halt geben. Für unser Treffen an diesem Dienstag laufe ich jedoch nicht wie gewohnt nur kurz um die Ecke, sondern fahre zwei Stunden mit dem Auto Richtung Hessen, nach Bad Arolsen. Hier liegt die Klinik in der Anna zurzeit therapiert wird und in der ich sie heute einen Tag begleiten möchte.

Zugenommen hat sie hier bisher nicht wirklich

Beim Aussteigen schnupper ich direkt frische Seeluft, die mich anders als die gewohnte Stadtluft in Essen, einmal tief durchatmen lässt – typisch Kurort eben. Unser erster Treffpunkt: Ein niedliches Café in der Nähe vom Twistesee und nicht allzu weit entfernt von der Klinik. Anna hatte bis vor Kurzem noch Ausgangssperre, wegen nicht eingehaltenen Essensvorgaben und darf sich nur in einem bestimmten Umkreis bewegen.

Sie strahlt übers ganze Gesicht als sie mich erblickt und schließt mich fest in ihre Arme. Ich kann fühlen, dass sie seit meinem letzten Besuch vor zwei Monaten nicht wirklich zugenommen hat. Dies ist Annas dritter Klinikaufenthalt innerhalb der letzten neun Jahre.

Von der frischen Seeluft und dem sonnigen Wetter berauscht kann ich es kaum erwarten mich mit einem leckeren Eis und Pizzabrötchen einzudecken. Anna bestellt routinemäßig ihr Glas Cola Light. Etwas aus der Reihe bestellen kommt für sie nicht in Frage. Es hat viele, lange und tiefsinnige Gespräche gebraucht bis ich die Struktur ihrer Gedanken und den wahren Grund ihrer Sorgen wirklich nachvollziehen konnte. Über die Jahre habe ich mich selbst immer mehr als den passiven Begleiter der Entwicklung ihrer Sucht beobachtet. Zuhören und Verstehen. Das ist meine Art sie bei ihrem Kampf gegen die Krankheit zu unterstützen. Denn eins habe ich durch unsere Freundschaft über den Umgang mit dieser Krankheit gelernt – Druck ausüben hilft nicht.  

Begleitete Mahlzeiten sind Pflicht

Das Wohngebäude der Klinik erinnert keineswegs an ein Krankenhaus, es sieht eher aus wie ein kleines Schloss. Der Park im Vorhof lädt mit seiner großen, grünen Wiesenfläche zum Spazieren gehen ein.

Foto: Melina Schweizer

Annas Tage hier sind durchgetaktet. Fast jeder Tag beginnt mit einem, vom Personal begleitetem, Frühstück um 7.50 Uhr im gemeinsamen Speisesaal. Vorne an einer Theke gibt es Snacks und Kaffee, hinten stehen Esstische mit Ausblick auf den Park und einem Zugang zu einem gemütlichen Wintergarten. Beim Frühstücken wird man hier von jeweils einer Begleitperson pro Tisch beim Zubereiten und Verzehren der Mahlzeit beobachtet. Die Patienten fotografieren ihre geschmierten Brote und laden sie in einer App hoch, die in der Klinik zur Kommunikation zwischen Therapeut und Patient genutzt wird. Diese App ermöglicht den Patienten ihre ausgelösten Gefühle während der Essensaufnahme festzuhalten, so dass die Therapeuten die Schilderungen in der nächsten Sitzung thematisieren können. „Ein tolles Konzept“, findet die Gruppe an unserem Tisch.

Foto: Melina Schweizer
Foto: Melina Schweizer

Selbsteinschätzung des eigenen Körperrumfangs – gar nicht so einfach

Anschließend beginnt die erste Gruppentherapiesitzung bei der ich sie begleiten darf. Als wir den Raum betreten sitzen bereits zwölf Teilnehmer des Kurses in einem Kreis auf dem Teppich. Ein paar Mädchen sitzen in Grüppchen zusammen. Auf der anderen Seite des Kreises vereinzelt ältere Männer. Die Krankheitsbilder sind bei allen unterschiedlich. Wir nehmen im Kreis Platz und müssen uns zwischen der Teilnahme an einer zwölfminütigen Meditation oder Yogaübungen entscheiden. Wir entscheiden uns beide für Yoga und rollen einen kurzen Moment später mit Dehnungsbändern auf Gymnastikbällen herum. Der Kurs soll den Patienten dabei helfen ihren Körper wieder bewusster und realitätsnäher wahrzunehmen. Um dies zu erreichen schätzen wir zunächst selbst den Umfang unserer Arme, Oberschenkel und Hüfte ein und stellen unsere Einschätzung mit einem roten Faden auf dem Boden dar. In Nachhinein wird der wirkliche Umfang mit einem blauen Faden abgemessen und der eigenen Einschätzung gegenübergestellt. Ich selbst bin sehr überrascht, dass auch ich den Umfang meiner Körperteile viel zu groß einschätze. Bei Anna erkennt man den Unterschied jedoch von viel stärker. (s. Bild unten)

Foto: Melina Schweizer

Gute Behandlung, meine Zweifel aber werden bleiben

Im Laufe des Tages habe ich den Eindruck gewonnen, dass das Personal sehr bemüht ist auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Patienten individuell einzugehen und einen familiären und persönlichen Umgang mit ihnen pflegen. Ich bin mir sicher, dass Anna hier einige Fortschritte machen wird. Ob es diesmal zur völligen Genesung ausreicht, das ist abzuwarten.